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System Irrelevanz - Überleben in der Großstadt ohne Hand und Fuß
Gut zu Fuß. Einen Fuß vor den anderen. Fußläufig. Das ist eine ganz einfache Sache. Nicht für Menschen, die darauf angewiesen sind, sich selbst „Beine zu machen“. Wir befinden uns hier im Alltag von Menschen mit Rollstuhl, Kinderwagen, Gehhilfe oder Rollator. Wir befinden uns hier auch in einem durchaus breitem Spektrum an Mitspielern. Allein ca. 19 Millionen Senior*innen zählt Deutschland zu seinen Mitbürgern, immerhin gut 22 Prozent der Bevölkerung. Jährlich kommen knapp 700 000 neue geborene Kinder hinzu. Die Anzahl an schwerbehinderten Menschen (Achtung Wortwitz) beläuft sich auf 7,8 Millionen. Um das Zahlenwunder komplett zu machen: Als Gemeinschaft schaffen wir es auf stramme 27,5 Millionen, das sind 32,5 Prozent der Gesamtbevölkerung. Manch eine große Partei träumt von diesen Zahlen.
Im Alltag dieser „Zielgruppe“ bemerkt man allerdings eher eine Art „SYSTEM IRRELEVANZ“. Ich spreche hier logischerweise aus Erfahrung. Und genau jene möchte ich jetzt gerne einmal genauer beleuchten.
Ich mach mir keinen Schlitz ins Kleid
Ehrlich gesagt, weiß ich gar nicht, wo ich anfangen soll. Es sind die selbstverständlichsten Dinge, bei denen in meinem Leben die Serienausstattung aus Einschränkungen und Hürden besteht. Fangen wir bei den Grundbedürfnissen an: Das Recht auf angemessenen Wohnraum. „Angemessen“: passend, richtig bemessen, geeignet. Ein Wohnhaus ohne Fahrstuhl ist für mich nicht geeignet. Meine Wohnung fungiert daher als „Ständige Vertretung“. Ich improvisiere den Umstand, den Bund der Vermietung ohne die Mitgift eines Lifts einzugehen, mit einem täglichen Climbing Training in den ersten Stock. Nicht zu verwechseln mit Klimbim*, wo es reicht sich einen Schlitz ins Kleid zu machen, wenn es mal nicht so läuft. Habe ich es auch zurück geschafft und einen Tag erwischt, an dem die Treppenreinigung schon durch ist, kann ich sauber und gepflegt einen Ausflug in den Dschungel der Barrierefreiheit der Stadt unternehmen:
„Lass uns Essen gehen.“ Sich einfach treiben lassen, worauf man Lust hat, schon klar. Der direkte Weg in ein Restaurant führt über eine App, die mir sagt, ob ich überhaupt hinein komme und im besten Fall, und das Bedürfnis soll vorkommen, auf Toilette gehen kann. Um nicht völlig auf Lokale zu verzichten, die ich einfach gerne besuchen möchte, gehe ich mitunter den faulen Kompromiss ein und konsumiere in dem einem Café, für kleine Königstiger wechsele ich in eins mit barrierefreier Toilette. Ob ich Meilen sammeln sollte?
„Komm wir fahrn Dreierbahn“. Was in dem Song von Erdmöbel als Freizeitspaß deklariert wird, manifestiert sich im öffentlichen Stadtverkehr, Hashtag Öffis, als „Entspaßifizierung“. Um von A nach B zu kommen bleiben mir als Rollstuhlfahrer grundsätzlich diverse Stationen zur Nutzung verwehrt: Kein Aufzug, Aufzug heute defekt, Bordsteinkante beim Ausstieg, der Kampf um den dafür vorgesehenen Abstellplatz in der Bahn mit den übrigen 29.999.999 Kampfschwimmern auf dem harten Pflaster. Apropos: Schonmal in einem Rollstuhl oder Kinderwagen eine längere Zeit über Kopfsteinpflaster geschunkelt? Man spart sich die Sesselmassage im Einkaufscenter, Kinder schlafen wunderbar dabei ein, nur Fashionistas mit Highheels haben das Nachsehen und brauchen eine gute Balance Schulung oder nehmen einen verstauchten Knöchel in Kauf.
Vermeintlich lustig ist auch die Idee, ein Taxi in Anspruch nehmen zu wollen. Taxifahren mit Rollstuhl scheint in Deutschland eine Erfindung der letzten 5 Monate. Richtig. Der letzten 5 Monate. Ok, alles braucht seine Anlaufzeit, daher bin ich nachsichtig, wenn das bestellte Taxi eigentlich gar keinen Rollstuhl transportieren kann, sondern der/die Fahrer*in davon ausgegangen ist, man könne jenen schön zusammenklappen und im Kofferraum verstauen. Da bleibt man zuweilen im Regen stehen.
Ladengeschäfte: Entzugskliniken für Shopping Süchtige
Eine Zugfahrt, die ist bewiesenermaßen lustig. Shopping à la carte fällt für mich als Fahrer eines 0.15 Tonners unter die Rubrik Entwöhnung. Ein Shopping Erlebnis, wenn ich immerhin nicht online bestelle und nachhaltig Vintage vor Ort einkaufe, sieht dann so aus:
Punkt 1:
Ich brauche eine Begleitung. Gut, ok, eine persönliche Styling Assistentin zu haben, verbuchen wir unter Rubrik fünf Sterne deluxe.
Punkt 2:
Die Läden, in denen ich die hippen Outfits für meinen Fashionweek Besuch ergattern kann, sind im Souterrain. Hier nützt nicht einmal mehr die Klage nach einer Rampe etwas. Kein Problem für mich als bereits erwähnter Climbing Experte. Ich hoppele einfach die 5 Stufen nach unten, befinde mich nun auf Augenhöhe mit den Füßen der Kleiderstangen, sehe sofort, wo in den Ecken nicht geputzt wurde und mit viel Glück stemme ich meinen Astral Körper, trainiert wie ich bin, auf ein Retro Ledersofa.
Punkt 3:
Ich meine, was jammere ich hier eigentlich. In dem Film „Pretty Woman“ hat Julia Roberts dank des Millionärs eine ganze Fußball Mannschaft beim Shoppen um sich rum, und muss keinen Finger krümmen. Nun gut, das mit dem Finger krümmen fällt bei mir eh weg. Meine Begleitung erledigt nun also für mich die Auswahl potentieller Glanzstücke, damit ich in der Front Row später eine gute Figur mache. Mindestens so gut wie die Models auf dem Laufsteg. Das bedeutet, sie muss meine Größe exakt kennen, meinen Geschmack gut einschätzen und komplett alles visuell scannen und möglichst zeigen, um mir nicht das Gefühl zu vermitteln, etwas verpasst zu haben. Also TOR! oder FOMO Gefahr!
Wer mir nicht glaubt und beruflich jene Themen investigativ aufdecken möchte, kann gerne mal eine Runde mit mir drehen im Dschungel da draußen. Tropenimpfung inklusive. Termin Vereinbarungen unter team@janis-mcdavid.de.
It´s a Jungle Out There!
Am Ende des Tages halte ich die Lampe auf Dinge, die für jeden ohne körperliche Einschränkung gar nicht auf dem Radar erscheinen. Ich möchte sensibilisieren, sichtbar machen, mich für konsequente Barrierefreiheit im Sinne der Gleichberechtigung und im Hinblick auf Flexibilität einsetzen. Ich möchte mich intuitiv und einfach bewegen können. Ich möchte die Angewiesenheit auf meinen Rollstuhl nicht vergessen, aber ich möchte als Rollstuhlfahrer nicht vergessen werden. Ich möchte Gleichwertigkeit und aus dem Schatten der Benachteiligung heraus treten können, mit oder ohne Beinen. Mein Rollstuhl kann mich elektrisch gesteuert auf Augenhöhe katapultieren. Ich möchte eine Augenhöhe auf zivilisierter, systemrelevanter und zwischenmenschlicher Ebene.
Das Wort zum Sonntag lautet daher:
„Was alle angeht, können nur alle lösen." (Friedrich Dürrenmatt)
*Klimbim ist der Titel einer der ersten deutschen Comedy-Fernsehserien.
Fotos: Katy Otto