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Mach doch mal jammerfrei

Als ich jüngst auf LinkedIn einen kurzen Beitrag über unser aller tägliches Jammern postete, war die Resonanz unerwartet hoch. Ganz offensichtlich gibt es sehr viele Menschen, die dem Jammern skeptisch gegenüber stehen und sich selbst bewusst positiv ausrichten. Zurecht wurde auch auf die andere Seite der Medaille verwiesen: Jammern kann helfen. Bloß: wem eigentlich?

Akut oder chronisch?

Na klar jammere ich! Etwas ist schief gelaufen? Dinge ergeben sich ungünstig? Laufen meinen Plänen zuwider? Okay, den Fuß kann ich mir nicht am Türrahmen stoßen, dafür lande ich mit meinem Rolli gerne in der Sackgasse zugeparkter Bordsteinkantenvertiefungen und so etwas Simples wie eine Straßenüberquerung wird zum Spießrutenlauf. Einem Akutfrust Luft zu machen ist befreiend. Dafür sind unsere Gefühle ja da, dass wir sie äußern. Dass sie uns und unserem Gegenüber offen zeigen, wie sich die Welt in und für uns anfühlt. Jetzt. Die wesentliche Frage ist schlicht, ob akutes Jammern in ein chronisches Jammerlappensyndrom übergeht (bei letzterem würde ich morgens aufwachen in der tiefen Gewissheit, dass sich alle Bordsteinkanten dieser Welt gegen mich verschworen haben, weil sie immer zugeparkt sind. Dass ich nie ungehindert meiner Wege gehen kann. Und ich würde über diese Bordsteinkantenverschwörung tägliche Seufzer in die Welt schicken). Dass die Killerwörter der Jammerkultur kursiv gedruckt sind – kleines Geschenk am Rande für Freunde der Selbstreflektion.

Aber man muss sich doch beschweren dürfen!

Im Wort Beschwerde steckt „schwer“ schon drin. Beschweren macht nichts leichter. Sich ständig über alles und jeden zu beschweren, egal wie gerechtfertigt es scheinen mag, bringt vor allem eins: hängende Schultern unter der Frustlast. So weit, so unproduktiv. Als Mensch mit Rollstuhl könnte ich mich täglich über eine endlose Zahl gesellschaftlicher Ignoranz-Symptome beschweren. Könnte Zeter und Mordio schreien, weil barrierefreie Klos – so sie denn überhaupt vorhanden sind – in jedem zweiten Lokal zugemüllte Abstellkammern sind. Weil ich für vieles mehr Zeit einplanen muss, als andere Menschen (ein Schelm, wer jetzt an meine Frisur denkt). Weil Leute nicht wissen, ob und wie sie mir die Hand geben sollen, wo ich doch partout keine habe. Weil andere mir indiskrete Fragen zu meinem Sexualleben stellen, denn aus ihrer Sicht kann ich doch gar keins haben. Und, und, und.

Weh und Ach und weiter geht’s

Immer wieder begegnet es mir, dass Menschen sich über eine Vielzahl genau solcher Dinge beklagen. Die Welt ist nicht zugeschnitten auf ihre ganz persönlichen Bedürfnisse oder Merkmale. Welch Frevel. Ja, das kann nerven. Nein, das ist keine Verschwörung. Es ist einfach so. Und das Hängenbleiben im Weh- und Ach-Modus ändert nichts, für niemanden. Vielleicht erhalten wir in der Dauerschleife der deprimierten Opferhaltung Aufmerksamkeit und (mitleidigen) Zuspruch; vielleicht tut uns das einen Moment lang gut. Ändern tut es nichts. An diesem Punkt entsteht oft die Gegenfrage: soll ich also einfach alles so hinnehmen? Nein! Eben nicht. Gerne in Aktion gehen. Bewegen statt Beschweren.

Gipfelsturm statt Jammertal

Noch frisch ist mein ernüchtertes Resümee zu einem Online-Vortrag, den ich vor Menschen mit Handicap bzw. Inklusionsaktivisten gehalten habe. Es ist mir ein sehr tiefes Anliegen mehr Motivation für Bewegung im Sinne von Eigenverantwortung in Herzen und Köpfe zu pflanzen. Weil ich nicht glaube, sondern, weil ich weiß, dass das empfundene, persönliche Lebensglück seine Wiege in uns selbst hat. In unserem Blick auf die Dinge und dem daraus resultierenden Denken und Handeln. Menschen, die sich selbstwirksam fühlen, sind glücklicher.

Bei besagtem Vortrag spürte ich schnell, dass diese Botschaft gar nicht wirklich gewünscht war. Vielmehr herrschte eine Atmosphäre des Selbstmitleids und Jammerns. Wir, die armen Benachteiligten. Wir, die wir es so schwer haben im Leben. Wir können erst, wenn die Umstände … Ein allgegenwärtiges „Ja, aber …“ im Raum.

Ich sehe, wie viel Luft nach oben wir haben, wenn es um Barrierefreiheit geht, um den allseits selbstverständlichen Umgang mit außergewöhnlichen Merkmalen, um Abbau von Vorurteilen und Stigmata. Die Konfrontation damit ist Teil meines Alltags. Ich sehe aber nicht nur, sondern ich lebe tagtäglich, wie viel Luft nach oben, zur Seite und nach vorne entsteht, wenn ich meine Möglichkeiten ausschöpfe. Wenn ich Realitäten anerkenne, um sie dann zu sprengen. Dass ich heute reise, autofahre, in Vulkankrater geblickt habe und nun sogar im Rennwagen sitze, ist nicht das Resultat von Beschwerden, sondern von Träumen, Visualisierung und der simplen Fragen: Wie könnte es für mich gehen?

Leben oder lamentieren?

Es ist deine Wahl. Ich hatte nicht die Wahl, wie mein Körper aussehen wird. Aber ich habe die Wahl, die Möglichkeiten, die mir das Leben eröffnet, zu nutzen. Ich habe die Wahl an Bordsteinkanten zu lamentieren, zu lachen oder den Abschleppdienst zu rufen. Ich habe die Wahl mich an tatsächlichen Grenzen abzuarbeiten oder sie anzuerkennen („Ich werde niemals ein Lenkrad halten können!“), um mich dann den Wegen zu widmen, die offen sind oder noch erobert werden wollen („Wie cool ist eigentlich Autosteuerung via Joystick!“).

Nimm dir öfter mal jammerfrei, denn dein bestes Leben ist leicht!

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© 2024 Janis McDavid